Auch das Thema dieser Ausstellung hat unter anderem wieder einmal – fällt Ihnen ein Muster auf? – mit dem Motiv des Waldes zu tun. In dieser Hinsicht knüpfen Erika Krause und Eva-Maria Wittmann bewußt an ein Motiv an, das sich, seitdem es von Heike Döscher und Andreas Vogel letztes Jahr hier erstmals aufs Tapet gebracht wurde, gewissermaßen zu einem Leitmotiv verselbständigt hat. Die Galerie Royal ist natürlich erfreut über derartige intertextuelle Zusammenhänge, insbesondere, wenn diese Bezugnahme auf so außerordentlich hohem Qualitätsniveau stattfindet.
Die Arbeiten, die Erika Krause und Eva-Maria Wittmann hier zeigen, stehen zunächst je für sich – so wie die beiden Künstlerinnen auch jeweils schon einzeln durch zahlreiche Ausstellungen einem großen Publikum bekannt geworden sind. Doch darüber hinaus lassen sich die Arbeiten, die die beiden hier in ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung präsentieren, auch als eine Art großer, zusammenhängender Installation lesen. Sie thematisieren und problematisieren, in einer zeitgenössischen Sprache, zwei wichtige Elemente aus dem Gedanken- und Bilderrepertoire der europäischen Romantik, nämlich – wie gesagt – den Wald und das Haus.
Die „Cut Outs“, mit denen Erika Krause hier arbeitet, sind denn passenderweise auch „späte Nachfahren“ der Schattenbilder, Scherenschnitte, Spitzenbilder etc. (Skiagraphien), die sich im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert so außerordentlicher Beliebtheit erfreuten. Diesen Cutouts liegen vorgefundene Bilder zugrunde, aus Büchern, Zeitungen, Magazinen etc., aus jenem unendlichen Universum technisch reproduzierter Bilder, das uns alltäglich und unausweichlich umgibt und von dem wir uns als ikonophagische Tiere mehr oder weniger mechanisch, unbewußt ernähren. Diese vorgefundenen Bilder jedenfalls werden in kraftvolle, abstrahierte Strichzeichnungen übersetzt, die dann wiederum stark vergrößert auf farbiges Papier aufgetragen und schließlich exakt ausgeschnitten werden. Die Ergebnisse werden direkt auf die Wände appliziert und dort miteinander in Beziehung gesetzt. Soviel zum Technischen.
Inhaltlich gesehen evoziert Erika Krause hier ein Bild aus dem tiefen, dunklen, dem unheimlichen Wald. Angedeutete, expressive Elemente von Bäumen und Ästen und verschiedene Tiere, die auch eher angedeutet, flüchtig erscheinen, und die – nur in Details und Ausschnitten faßbar – als Kippfigur zwischen tatsächlichen Species und seltsamen Märchen- oder Fabelwesen oszillieren. Die Durchführung des eigentlich eher düsteren Themas in der geradezu lebensfrohen Farbigkeit erzeugt noch eine zusätzliche, möglicherweise ironische Brechung.
Dazwischen und dabei: zwei menschliche Figuren, die nicht so recht dazuzugehören scheinen, die eher außerhalb stehen; vielleicht als Beobachter, wie der durch den „Rahmen“ der Türe zusätzlich isolierte Militärpolizist (?), vielleicht angesichts der unheimlichen und bedrohlichen Szenerie auf der Flucht, wie die springende Figur.
Aber man weiß es nicht so genau. Das erscheint mir ein wesentliches Merkmal an den Arbeiten von Erika Krause. Die Bilder in ihrer Vagheit und zunächst nicht ganz eindeutigen Kombinatorik besitzen zwar etwas unabweisbar Narratives – aber sie geben nicht eine bestimmte Erzählung vor, sie öffnen Assoziationsräume für die individuellen Betrachter mit ihrem eigenen Vorwissen und Hintergrund, sie dominieren also nicht die Sinnbildung des Rezipienten, sondern beziehen diesen in seiner je individuellen Verfassung als Konstrukteur von Sinn mit ein.
Dieser Springende – es handelt sich um ein Bild aus dem Film „The Matrix“ – scheint übrigens noch einmal auf die Reflexion über das Eigenleben der Bilder und Abbildungen zu verweisen, die Erika Krauses Arbeiten auch zugrundeliegt: wird in diesem Stück verfilmter postmoderner Philosophie doch vor allem eins verhandelt, nämlich das merkwürdig fragile und manipulierbare Verhältnis von Realität und Repräsentation, von Abbildern, Simulationen und Simulakra. Ein Thema das ja vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Wochen eine unbestreitbare Brisanz besitzt.
Ich will aber auf das Thema der unheimlichen, fremden, wilden, ungestalteten und letztlich unbegreifbaren Natur zurückkommen. Diesem setzt Eva-Maria Wittmann ein Sinnbild von Kultur, Seßhaftigkeit, Schutz und Geborgenheit entgegen, das Haus. Daß diesem Gegensatz eine gewisse Spannung innewohnt macht schon der oft bemühte Topos der einsam im Wald gelegenen Kate, Köhlerhütte etc. in vielen Märchen deutlich.
Die drei großen Skulpturen von Eva-Maria Wittmann bilden einen Ausschnitt aus einer Phänomenologie des Hauses überhaupt. Der Iglu oder Trullo als frühe, archaische Form. Das klassische, gewissermaßen wirklich „hausförmige“ Haus (das aber wiederum in seiner Ähnlichkeit mit einem Wachhäuschen auf den Militärpolizisten an der Wand sich zu beziehen scheint). Und der extrem reduzierte, skelettale, turmartige Bau in seiner verwirrenden, fast rhizomartigen Wucherung, der an zeitgenössische städtebauliche Utopien gemahnt. Es sind verschiedene Gestaltabschattungen des umbauten, umhegten Raumes, die in ihrer Verschiedenartigkeit letztlich die anthropologische Konstante der Idee „Haus“ sichtbar zu machen vermögen. Formal sind es Variationen, Oszillationen von Dichte und Durchlässigkeit, Offenheit und Geschlossenheit, Massivität und Fragilität, Konkretem und Abstraktem.
Natürlich spielen auch die Arbeiten von Eva-Maria Wittmann für sich genommen in verschiedene andere Richtungen, die ich hier nur kursorisch andeuten möchte. Ein Beispiel wäre etwa der aus Kunstbänden aufgeschlichtete Iglu, der nicht nur eine witzige kunstgeschichtliche Volte auf die bekannten Arte Povera Iglus von Mario Merz darstellt, sondern auch noch ein treffliches Bild für die Abgeschlossenheit des gesamten Systems „Kunst“ liefert. (Auch dieses ist schließlich ein abgeschlossenes Haus, mit massiven Wänden und nur wenig Durchlässen zu seinem Außerhalb, zur Welt bzw. zu anderen Systemen.)
Aber zurück zu dem Aspekt der Ausstellung, auf den ich hauptsächlich hinauswollte: die dialektische Gegensätzlichkeit von Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich, Natur und Kultur. (Tatsächlich kann man die „Erfindung“ des Hauses ja wirklich als einen Eintritt in die Kultur schon im ganz wörtlichen Sinne beschreiben, leitet sich unser Begriff Kultur doch etymologisch von lat. „cultura“, also Landbau oder Pflege, ab. Der Landbau setzte aber recht eigentlich die Abkehr von einer nomadischen Lebensweise voraus, mit anderen Worten: die Seßhaftwerdung in dauerhaften Behausungen.)
Natur und Kultur also, und selbstverständlich als Gegensätze, anders denn als Gegensatz vermögen wir Natur ja gar nicht zu denken, wie verschiedentlich gesagt wurde. Das Natürliche wird uns stets nur faßbar als Gegenteil der Setzung, des Technischen, des Gekünstelten oder Verderbten, des Zivilisierten, oder als Äußeres im Gegensatz zum Innen.
Dieser Gegensätzlichkeit von Natur und Kultur wohnt aber letztlich auf einer anderen, auf einer romantischen Sinnebene die versöhnende Synthese bereits inne. Denn im kollektiven und individuellen Unbewußten ist das Haus stets auch das (verlorene) Eltern-Haus, unser erster Kosmos, Ursprung und vollkommene Geborgenheit. (Dieses Moment klingt an in der Bespannung des einen Hauses hier mit Kopien von Tagebuch bzw. Skizzenbuchseiten: die eigene Persönlichkeit ist unseren Häusern und Wohnungen stets unvermeidbar eingeschrieben, unser Leben verwächst mit unserem Kosmos)
Und ähnlich wie in diesem Ursprungstopos des Hauses imaginiert das romantische Denken auch die Natur als verlorenen Ursprung, als wiederzufindendes Paradies, von dem uns die Probleme, an denen die Kultur, wie Friedell sagt, so überaus reich ist, entfremdet haben; als einen kindlich-unschuldigen Seinszustand. Beide, die Natur und das Haus gleichermaßen sind also mithin nach rückwärts projizierte Utopien des entfremdeten und entwurzelten Menschen der Moderne – des „unbehausten Menschen“, wie ihn Hans-Egon Holthusen 1951 charakterisiert hat. Die Natur und das Haus sind aus dieser Perspektive beide, wie Kleist sagte („Über das Marionettentheater“), ein verriegeltes Paradies, welches wir erst nach einer mühsamen Reise um die Welt vielleicht von hinten wieder betreten können. „Ursprung ist das Ziel.“ (Karl Kraus)
Aber zwischen uns und diesem Ursprung liegt eben die Notwendigkeit einer intellektuellen Durchdringung genau dieser Zusammenhänge von Gegensatz und Synthese, Entfremdung und Rückkehrmöglichkeit. Wir müßten also, wie Kleist weiter schreibt, „wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen (…); das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“
Und für diesen Erkenntnisakt scheint mir wiederum die schon erwähnte springende Figur des Neo aus „The Matrix“ eine bemerkenswerte Chiffre zu sein. Unter Umständen wird hier nämlich genau der Sprung gesprungen, von dem Walter Benjamin in seiner XIV. These über den Begriff der Geschichte spekulierte.
„Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robbespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert. Derselbe Sprung unter dem freien Himmel der Geschichte ist der dialektische als den Marx die Revolution begriffen hat.“