Vortrag „er baulicher“

Großhauswelten:
ein paar Überlegungen zur Ausstellung
„er baulicher“ von Tom Früchtl und Olaf Probst
und über eine „Town with little or no pity“

(Giant Sand).

Bilder zur Ausstellung

Ein Gespenst geht um in München. Die redlichen Bürger haben schreckliche Angst: es sieht aus wie ein Haus das es wagte, höher zu sein als die Traufe der Frauentürme. Die redlichen Bürger wehren sich nach Kräften und wollen Münchens angebliche millionendörfliche Struktur erhalten und eine Weltstadt mit Herz, die bitteschön, nicht so hoch hinaus will. Der Majestix dieser widerständigen Dörfler ist ein ehemaliger Oberbürgermeister, unter dessen Regierung nicht wenige Abscheulichkeiten geplant und errichtet wurden – freilich nicht so hoch wie die heute geplanten, das macht einen Unterschied, ja, bestimmt doch.

Aber vergebens. An verschiedenen Stellen überragen schon einzelne Türme die ebenmäßig flache Silhouette der Stadt. Und bringen die Befürworter hoher Gebäude in die Bredouille: eigentlich wäre man ja schon dafür, aber nicht dafür… Gleichförmige Fassaden aus immer dem gleichen Stahl und Glas, die nicht den Eindruck erwecken, als hätte ein Architekt mit der Sache zu tun gehabt. Klischierte Schwundstufen des historischen „International Style“, bei denen offenbar mehr die Kosten und die schnelle Machbarkeit die Gestalt bestimmen als irgendein Wille zur Gestaltung oder gar – horribile dictu – zur Originalität. Die Ironie dabei ist, daß der ganze Schotter auch noch leersteht. Und daß auch die weiteren Grauklötze, an denen allerorten gewerkelt wird, diesem Schicksal entgegengehen und damit einfach gar keine Existenzberechtigung mehr haben.
War das Elend vieler moderner Bauten ja schon dies, daß man aus der Vitruvschen Trias „Utilitas/Nützlichkeit, Firmitas/Festigkeit, und Venustas/Schönheit“ die letztere gestrichen hatte – so kommt jetzt endlich die Firmitas/Festigkeit alleine daher. Der Nutzen fehlt mangels Bedarf; aber stabil sind sie. Deutsche. Wertarbeit. Wenn in der Hölle kein Platz mehr ist, kommen die schlechten Architekturen auf die Erde zurück.

Ein Elend.
Insofern ist diese Stadt der ideale Ort für eine Architekturwoche. Unter einem Oberbürgermeister, der sich nicht zu blöd ist, wochenlang gegen einen drehbaren Stern auf einem sonst ohnehin erschreckend mediokren Spiegeltürmchen zu reiten (Zu den Ansichten des besagten Oberbürgermeisters zur zeitgenössischen Kunst sei hier gnädigst erstmal ganz geschwiegen). Und das in einer Gegend, die, wie die Mancha selbst, ansonsten optisch eh uninteressant ist. Nunja. Männer mit Schnauzbärten früher und heute…
Egal.

Demnächst eröffnet jedenfalls die Zweite Architekturwoche ihre zahlreichen Pforten und auch die Galerie Royal ist mit ihrer Ausstellung „er baulicher“ Partnerprojekt derselben. Die A2 steht unter dem Motto „Stadt im Fluß“. Damit sind tatsächlich weniger Situationen gemeint wie Wasserburg/Inn, Passau oder die Ile de la cité, als vielmehr der dynamische, prozessuale Charakter von Urbanität. Insofern könnte man zwar geneigt sein, hier in München den Fluß doch wieder als River Isar zu deuten, aber vielleicht geht es ja –
trotz des Schauplatzes – nicht unbedingt um das Hier und Jetzt, sondern mehr um allgemeine Entwicklungen oder gar Utopien, Nicht-Orte, Nocht-Nicht-Orte und Noch-Nicht-Entwicklungen.

Als wir uns um die Teilnahme an der Architekturwoche bewarben, schrieb ich folgendes, weniger die Ausstellung wirklich beschreibend, als vielmehr ein geplantes, aber noch keineswegs ganz absehbares Projekt verkaufend:
„Tom Früchtl und Olaf Probst konstruieren mit einfach wirkenden Mitteln das abstrakte Modell einer Stadtlandschaft. Die Oberflächen der verwendeten Kisten werden von den beiden in München lebenden Künstlern in ihren charakteristischen Techniken bearbeitet: Probst schafft Grauwerte, monochrom wirkende Flächen, aus winzig gedruckten Buchstaben und Sätzen; Früchtl verdoppelt mit malerischen Mitteln die Erscheinungen von Oberflächen. Beide beziehen sich jeweils auf die Arbeit des Partners, auf die räumliche und beleuchtungstechnische Situtation der Galerie, auf den Wachstumsprozeß der Stadt. Ihre Arbeit reflektiert damit Aspekte gegenwärtiger Urbanität: Komplexität, Differenzierung, Fluktuation, Lesbarkeit und das Primat der Oberflächen.
Der Titel ist sowohl als Steigerung von „baulich“ wie auch als – im Sinne von Olaf Probsts Schriftloops – „erbaulich“ zu lesen.“

750 Zeichen (ohne Leerzeichen) – das hat gereicht, um reinzukommen. Reicht das?

Nein?

Na gut.

Zunächst ist zu sagen, daß alles in der Tat genauso ist, aber ganz anders.

Formale Beschreibung: Der Hauptraum der Galerie ist gefüllt mit 31 Kartons, Schachteln, Würfeln, Rollen, Türmen. Die Oberflächen sind beklebt mit Probsts Wortloops, die extrem klein gedruckt sind und so aus der Entfernung Grauwerte ergeben. Die Druckverfahren sind Siebdruck, Offsetdruck, Fotokopie, Computerausdruck. Diese Grauwerte sind wiederum teilweise ergänzt, teilweise übermalt von Tom Früchtl. In Acrylfarbe. Die Arbeit ist Site-specific, Tages-Zeit-specific und Situationsspezifisch: sie erzählt von der Interaktion. Die Tageszeit schlägt sich nieder in Früchtls malerischer Verdoppelung von bestimmten Schattenwürfen und Reflexen auf den Objekten selber oder an der Wand. Ein Vexierspiel für die Gönner der Vermalkunst. Ebenso übrigens die Schriftloops bzw. Grauwerte.

So entwickelt die Installation einen merkwürdigen Sog, sobald man sich hineinbegibt: der Blick bleibt immer wieder irgendwo hängen, und versucht unwillkürlich zu fokussieren, zu eruieren, ob es sich um Schrift oder Farbe handelt, Schatten oder Malerei, was da geschrieben steht, wo der Druck aufhört und der Pinsel anfängt.

Die Gemeinschaftsarbeit folgt einigen, wenigen grundsätzlichen Regeln. Kein homogenes, gleichförmiges Baukastensystem, sondern jeder Wortloop und jede Malerei sind auf das je individuelle Objekt bezogen. Es gibt nur Objekte, die auf dem Boden stehen, die Wände und die Decke bleiben frei. Die Schachteln/Kästen/Kisten sind – mehr oder weniger – offen. Die Arbeit entstand tatsächlich hier vor Ort.
Eingestreut in die großen Objekte sind kleine, bunte Würfel, die als eine Art Index der vorkommenden Farbwerte fungieren, und diese verschiedentlich zusammenführen und kombinieren. Entsprechend heißen diese „déja vues“. Die stark konzeptuelle Seite der Installation wird auch durch einen zentralen Monolithen betont, der enzyklopädisch nüchtern alle bisherigen Loop-Arbeiten Probsts in chronologischer Reihe aufzählt – also die Sammlung auf der die hier gezeigten Samples beruhen. Tom Früchtls Malerei hingegen kommt deutlich situativer daher. Er reagiert einfach auf die Grauwerte. Und die Farben. Und den Raum. Und die Beleuchtung. Und zufällig entstehende Muster. So konterkariert er bei einer Stele die durch die Klebung der einzelnen Druckblätter entstandenen dunklen Linien, indem er ihnen in der Gegenrichtung helle Linien entgegensetzt; welche aus der Entfernung viel plausiblere Stoßkanten ergeben und widerum die richtigen Klebespuren als dunkel gemalte Linien erscheinen lassen. Auch an anderer Stelle wirken auf den ersten Blick die gedruckten Grauwerte viel plausibler als Malerei während die gemalten Flächen scheinbar mechanisch-streng daherkommen. Bisweilen sorgt die vom Leim angelöste und dann leicht verlaufende Druckfarbe für regelrecht expressionistische Eindrücke, gegen die Früchtls ruhigere und geometrische Momente stellenweise wie selige Achtziger-Jahre-Neo-Geo-Malerei aussehen. Aber gottlob eben nur stellenweise. Und wenn man genauer hinsieht.
Ebenso lohnt sich bei Olaf Probsts Grauwerten das genauere Hinsehen. Die zwischen Monochromie und malerischer Expressivität changierenden Drucke geben bei näherem Hinsehen ebenso Rätsel auf wie Früchtls wahrnehmungstechnische Vexierspiele. Und nicht nur auf der optischen Ebene. Wer sich die Mühe macht, auch das Kleingedruckte zu lesen, sieht sich konfrontiert mit Endlosschleifen, deren Bausteine variieren zwischen schlichten Repetitionen („nunununu…“), die graphischen Ähnlichkeiten geschuldet sind (wie auch „69696969…“); Palindromen, die Bezüge zum architektonischen Thema entwickeln wie „bauab…“ (s. Einladungskarte) oder einer überbordenen Lust am Wortspiel frönen wie „ideenneedi“; polyglotten Mischformen zwischen Palindrom und graphischer Spielerei wie „monnom nowon“; bis hin zu regelrechten Gedichtformen wie der Folge „ich vergesse den letzten schritt und erinnere den nächsten“. Die Grenzen zwischen konkreter Poesie, graphischer Gestaltung und semantischem Inhalt sind ebenso fließend wie die zwischen Malerei und Skulpturalem bei Früchtl. Der harte Weg der Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Gegenüber und mit den je eigenen Vorgaben und Vorlieben schlägt sich expressis verbis in dem „Zusammenarbeitsvertrag-en“ nieder, der hier als Diptychon ausgestellt ist. Der gedruckte Vertrag in zwei Versionen, die je noch einmal in schwarz und in weiß über-/vermalt sind.

Probsts Loop „globalocal lacolabolg“ verweist schließlich wieder ganz konkret auf den urbanistischen Kontext der Installation, Globalisierung, Lokalisierung, Glocalisation… Global Cities, Auflösung räumlicher Zusammenhänge, Ageographie, Fragmentierung, Heterotopien… Praktischerweise ist das in Früchtl&Probst-Town schon auf den Gebäuden selber zu lesen. Die Lesbarkeit der Stadt durch Beschriftungen, Werbung, Symbole, Logos, starre und blinkende, Bewegungen zeichnende Weg- und Sinnweiser wird hier im Kleinen wiederholt – und dabei wird deutlich, wie sehr diese Oberflächen recht eigentlich das Wesen des Urbanen darstellen.

Und noch ein architekturtheoretisches Statement läßt sich hier herauslesen. Gegen den totalitären, gleichförmigen und universellen Impetus der Moderne, der ja vorher schon geschmäht wurde, setzen Probst und Früchtl eine „Kultur des Unterschieds“ – so hat der Soziologe Richard Sennett die Stadt charakterisiert. Ihre Suche nach individuellen, Situations- und Kontextbedingten Lösungen für die einzelnen Skulpturen respektive Gebäude ist eine konsequent postmoderne. Die sich von den universalistischen modernen Lösungen unterscheidet in ihrer Rücksichtnahme und ihrem Rückbezug auf historische und lokale bzw. regionale und funktionelle Gegebenheiten bzw. Gewordenheiten.

Damit sind wir wieder bei den Ausgangsüberlegungen. Die Arbeit von Früchtl und Probst ist ein Plädoyer für eine städtische Kultur der Differenz und des Spezifischen, der Großzügigkeit (vom Grad der Agglomeration ist es eher eine Referenz auf Shanghai denn auf London oder New York) und des Mutes. Mut zum Utopischen und zur Originalität. Mut zum „industriell Vernakularen“ (Venturi et al.).

Und um auf die Münchner Hochhausdebatte zurückzukommen (auch dieser Text ist spezifisch und vernakular): erinnere ich daran, wie und wo die architektonische Gattung des Hochhauses (tall building) überhaupt entstehen konnte. 1871 wurde Chicago von einem verheerenden Großbrand zu weiten Teilen vernichtet. Aber erst in der ökonomisch bedingten Eile des Wiederaufbaus konnten sich mehrere divergente Entwicklungen der vorangegangenen Zeit zu einem stringenten baulichen Paradigma vereinigen: die feuersichere und vor allem statisch leichte Stahlskelettkonstruktion mit Ziegelmauer und der von Elisha Grave Otis erfundene dampfbetriebene Fahrstuhl, sowie etwas später der verstärkte Fundamentbau. Diese Kombination erlaubte Gebäude von bislang ungeahnter Höhe. Schon 1913 wurde beim Woolworth-Building in New York die erstaunliche Höhe von 241 m erreicht, überboten erst in den Dreißiger Jahren durch Chrysler Building (319m) und Empire State Building (381m). Der Rest ist bekannt.

Braucht es also einen großen Brand, um neue architektonische Ideen und Konzepte durchzusetzen? Man könnte meinen.
Aber München, München blieb ja auch damals niedrig. Und später. Und gestern. Und heute noch fast. Und stolz darauf. Vielleicht ist die Landeshauptstadt ja jenes geheime Reservoir überkommener Architekturmodelle, von denen die türkische Künstlergruppe „Oda Projesi Team“ in ihrem Flugblatt zur letzten Biennale in Venedig schrieb:
„In one of the European countries, deep in the Alps, architects and planners have secreted away an exact replica of every town in the country, so that in case of disaster rebuilding the country will require no invention at all.“
Aber vielleicht verirren sich ja im Zuge der Architekturwoche Zwei noch ganz viele Architekten und Stadtplaner und Politiker hierher. Und sehen die Arbeit von Tom Früchtl und Olaf Probst. Und ahnen, was alles möglich wäre. Und alles wird gut.

Peter T. Lenhart, 2004