An der Mitternachtseite des Ländchens Oesterreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaia, und fortstrebend bis zu jenem Gränzknoten, wo das böhmische Land mit Oesterreich und Baiern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, schoss ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegen einander, und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun den drei Landen weithin sein Waldesblau zeigt, und ihnen allerseits wogiges Hügelland und strömende Bäche absendet.
Dichte Waldbestände der eintönigen Fichte und Föhre führen stundenlang vorerst aus dem Moldauthale empor, dann folgt, dem Seebache sacht entgegensteigend, offenes Land; – aber es ist eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend, als tief schwarzer Erde, dem dunklen Todtenbette tausendjähriger Vegetation, worauf viele einzelne Granitkugeln liegen, wie bleiche Schädel von ihrer Unterlage sich abhebend, da sie vom Regen bloßgelegt, gewaschen und rund gerieben sind. – Ferner liegt noch da und dort das weiße Gerippe eines gestürzten Baumes und angeschwemmte Klötze. Der Seebach führt braunes Eisenwasser, aber so klar, daß im Sonnenscheine der weiße Grundsand glitzert, wie lauter röthlich heraufflimmernde Goldkörner. Keine Spur von Menschenhand, jungfräuliches Schweigen.
Ein dichter Anflug junger Fichten nimmt uns nach einer Stunde Wanderung auf, und von dem schwarzen Sammte seines Grundes herausgetreten, steht man an der noch schwärzern See’sfläche.
Ein Gefühl der tiefsten Einsamkeit überkam mich jedesmal unbesieglich, so oft und gern ich zu dem mährchenhaften See hinaufstieg. Ein gespanntes Tuch ohne eine einzige Falte liegt er weich zwischen dem harten Geklippe, gesäumt von einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst, daraus manch einzelner Urstamm den ästelosen Schaft emporstreckt, wie eine einzelne alterthümliche Säule.Er (Gott) hat alles so lebendig beschrieben, auch die Wälder alle dort oben, unermeßlich und undurchdringlich, so daß unsre nur Gärten dagegen sind. Ein schöner schwarzer Zaubersee soll in ihrer Mitte ruhen, und wunderbare Felsen und wunderbare Bäume um ihn stehen, und ein Hochwald ringsherum sein, in dem seit der Schöpfung noch keine Axt erklungen. Der Jäger sagte, daß er wohl bisher noch nicht so tief hineingedrungen sei, um zu dem Wasser zu gelangen, aber nächstens würde er es thun, und da trägt er auch einen geweihten silbernen Knopf bei sich, um den Wildschützen und Mörder niederzuschießen, sobald er ihn ansichtig wird; denn gegen Blei ist er fest.
Adalbert Stifter, Hochwald
Im Dreißigjährigen Krieg versteckt der Schlossherr Heinrich von Wittinghausen seine zwei Töchter Klarissa und Johanna in einem Haus, versteckt tief im Wald vor den herannahenden Schweden – aber es gibt keine Rettung. Der Hochwald, von Adalbert Stifter auf der Höhe der Romantik, in den Vormärzjahren 1841/42 verfasst, schildert uns den Böhmerwalds, so dass einem die Bilder dieser Ausstellung als Illustrationen dazu anmuten mögen; leider sind Plot und Charaktere der Geschichte so holzschnittartig und angefrömmelt, wie bei Stifter eben all zu oft.
Wenn man In Gesellschaft von Bäumen sich befindet, ist man meist im Wald.
verGesellschaftet – biologisch „in Symbiose“ – zusammenlebend, voneinander abhängig. Und mit Bäumen finden sich bekanntlich vor allem die Pilze vergesellschaftet.
Das Myzhel vergesellschaftet sich mit den Wurzeln. Stirbt der Baum ab, bildet sich daraus ein sogenannter Hexenring …
Pilze – heterotroph – können ihre Nahrung nicht selbst erzeugen; sie erhalten Kohlehydrate/Zersetzungsprodukte vom Baum und führen diesem umgekehrt Nährstoffe zu.
Menschen – ebenfalls heterotrophe Organismen – sehen wir auf den Fotografien von Cora Piantoni in Gesellschaft von Bäumen.
In der vorangegangenen Ausstellung der Galerie Royal „Katalog“ waren gerade noch Piantonis „Edge Conditions“ gezeigt – wir sehen darauf die Künstlerin als zerbrechliches Wesen der Natur in die Kultur geschmiegt, nämlich insbesondere in die Relikte der unbedingten Moderne des International Style, wie sie auch wirklich in jeder Stadt der Welt zu finden sind – ob München, Zürich oder anderswo. Diese Städte, die beispielhaft für den langen Kampf der Menschen um räumliche und geistige Distanzierung von den Unbillen der Natur stehen; die Sicherheit der Städte, die dann in Stifters Zeit, im 19. Jahrhundert sogar durch sicheres Reisen zwischen den Städten mittels der Eisenbahn zu einer einzigen Ecumenopolis zusammenzuwachsen begannen. In dieser Zeit kann erst der Begriff von Natur mit Sehnsucht nach etwas verbunden werden, dass außerhalb steht, nach etwas anderem.
Die hier gezeigte Serie von Fotografien von Cora Piantoni trägt den Titel „In Gesellschaft von Bäumen“. Entstanden auf der Burg Klenová nahe Klattau im Böhmerwald, der im ersten Augenschein so viel heller und kultivierter wirken mag, als sein Bruder, der Bayerische Wald, dann aber beim durchfahren oder durchwandern eine Wirkung von Einsamkeit und Verlassenheit entfaltet, wie kaum eine Gegend Mitteleuropas sonst.
Wir sehen verwirrende Äste, Vexierbilder, wie wir sie seit dem 17. Jahrhundert auf Stahlstichen oder Radierungen kennen. Und wie beim Vexierbild kippt auf den Fotografien Cora Piantonis Figur und Hintergrund zwischen anthropomorpher Baum und vegetetativem Mensch, von dem man nicht weiß, ob er sich (auf der Flucht vor den Schweden?) im Geäst verhakt hat, ob es sich um ein lauerndes Waldfräulein handelt oder ob sich da jemand versteckt.
Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch da droben?
Wohl den Meister will ich loben,
So lang‘ noch mein‘ Stimme erschallt,
Will ich loben,
So lang‘ noch mein Stimme erschallt!
Lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl,
Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald!
Lebe wohl, lebe wohl, du schöner Wald!
J. v. Eichendorff
Giambatista Vico schreibt 1725: „Die Ordnung der menschlichen Dinge schritt so vorwärts: zunächst gab es die Wälder, dann die Hütten, darauf die Dörfer, später die Städte und schließlich die Akademien.“
Wir finden im Abendland ein stabiles Grundsystem der Emotionen in Verbindung mit Wald.
Der Wald war nie ein Habitat der Menschen, und darin finden wir auch den Hintergrund der Attribuierungen.
Seit der Zeit der „Sommerfrische“, also etwa seit Ende des 19. Jahrhunderts sehen die meisten Mitteleuropäer ihren Wald in Funktion der klassische Allmende, einem Ort, der der Allgemeinheit zur „Naherholung“ (hat das etwas mit Parusie zu tun?) dienen kann, auf den wir Anspruch haben. Aber diese Funktionalisierung ist so neu und sowenig in unseren Allegorienschatz eingegangen, dass es sich auf jeden Fall lohnt, einen Blick auf die Entwicklung der Wald-Metaphorik zu werfen.
Bis zur Antike konnten die Menschen nur am Waldrand und entlang von Lichtungen den Wald erfahren. Der tiefe Wald war vollkommen unbetreten.
In der Antike entwickelt sich dann ein differenzierteres Wald-Bild: es gibt den titanischen Urwald, der gleichwertig neben sonstigen unbetretbaren Orten im Dunkel bleibt. Aber es hat sich auch der – oft heilige – Hain eingestellt; und hier finden wir bereits die, für uns Europäer so eingängige Dialektik des Waldes: der Hain ist nämlich sowohl Ort der (Zu-)Flucht, an dem die gejagte Kreatur sogar vor Göttern sich retten kann, wie Daphne vor Apoll – als aber auch der Ort, an dem die Nymphen ihr Wesen treiben, welches den Plot für zahlreiche unglückliche Verwandlungen für Ovids Metamorphosen liefert, ein Ort, an dem Mann sich vor dieser weiblichen Natur durchaus in Acht nehmen muss, um nicht am Ende von der traurigen Echo in die Irre geführt zu werden.
Sehr Interessant ist die Konstruktion der Deutschen Identität aus dem Wald als Kontrast zur Römischen Zivilisation, die Tacitus in seiner Germania bereits um 100 n.Chr. entwirft. Im Teutoburger Wald, dem Reich der Erz-Barbaren finden wir den Ursprungsmythos der Deutschen als wildem Waldvolk.
– Diese starke allegorische Verbindung von Deutsch und Wald erklärt auch, warum der Baumfrevel der Zivilisation als das Waldsterben nur den Deutschen zum Begriff geworden ist.
Bis ins Mittelalter war die Beziehung der Menschen zum Wald dann auch primär exterminativ: auf Rodungsflächen, Hufen, wurde der Stück für Stück das Neuland unter Pflug gebracht. Nahrung liefert der Wald kaum, sieht man vom Honig ab; er bleibt bedrohlich – vor allem durch Verirren und durch Wegelagerer und Räuber und der heidnischen Hain der Antike degeneriert zum Wohnort von Waldkobolden, Schraten und ähnlichem Gelichter.
Ab der Renaissance wird der kulturelle Bedeutungsverlust des Waldes eklatant. Das Christentum als mediterraner Traditionsraum aus aridem Klima entwickelt – bietet wenig Anknüpfungspunkte; nur Zisterzienser waren gelegentlich in den Wald gegangen, um Urbar zu machen.
Die Holzwirtschaft entsteht in Folge der starken Abholzungen durch den Flottenbau, die zunehmende Heizung. Der Begriff der Nachhaltigkeit, also des Wirtschaftens im dynamischen Gleichgewicht mit der Natur, entwickelt sich direkt aus der Erfahrung der Waldbauern. Die Jagd erblüht im Barock zum kulturellen Anker höfischen Rituals.
Und dann, mit der Wende zur Moderne, der Entwicklung der Großstadtkultur formt sich das Bild, das der Wald uns vermittelt als Komplement zur Kultur; Nacht und Wald; die Romantische Dialektik von Schönheit und Erhabenheit.
Adolf Levenstein veröffentlichte 1912 seine Arbeiterfrage, ein Werk, das auf eine empirische Erhebung unter 8.000 Arbeitern zurückging. „Was denken Sie, wenn Sie auf dem Waldboden liegen, ringsum tiefe Einsamkeit?“, wollte er wissen. Die schriftlichen Antworten lassen erkennen, wie der Wald in der Bevölkerung bereits zum Gesamtsymbol für Natur geworden war. Ein Berliner Textilarbeiter versuchte, seine Gefühle im Stil romantischer Dichtung auszudrücken: „Ja. Ich liege im Moos und blicke empor zum reinen Firmament, nichts regt sich, nichts stört mich, ein unendlich wohliges Gefühl durchzieht die Brust, ich fühle es, wie ich langsam wieder Mensch werde, wie ich zur Natur zurückkehre, wie ich wieder eins werde mit dem großen, unendlichen All“
zitiert nach Lehmann in „Der Bürger im Staat“, Nr. 51,1
Der Wald als Symbol von Innerlichkeit und geheimen Schauer. Dämmernder Wald und schattige Felsenschlucht sind Lieblingspanoramen der Romantik. Ebenso die Jagd, das (brennende) Schloss, der Eremit (Pilger, Mönch), das Gewitter, die Mondnacht, das Fenster als Motiv der Sehnsucht und dem Verlangen nach Weite, außerdem die die Endzeit symbolisierende Feuersbrunst. Der Wald umschließt unsere Siedlungen, die dadurch in die Mitte unserer Welt rücken.
Zuflucht – wer in Not ist im Märchen, geht in den Wald. Der Wald wird der Ort der Erscheinungen, der Irrlichter. Mythos wird durch die Erscheinungen im Alltag sichtbar. Durch den Mythos werden erhabene Dinge (Sonne, Mond, Sterne, Wald) mit alltäglichem in Verbindung gesetzt. Im Wald findet dies durch die Erwartung bedrohlicher Wesen – Hexen, Drachen, Riesen, Zwergen oder eben Räubern statt, oder die Hoffnung doch auf eine gute Fee zu treffen.
Das Erhabene, Sublime, ist das Komplement des Schönen. Das Erhabene steht über uns und unsere eigene Machtlosigkeit wird uns angesichts des Erhabenen deutlich gemacht.
Diese Erhabenheit der Natur finden wir in Cora Piantonis Video-Installation „interne Symmetrien“, in der die Mutter der Künstlerin vom Tod ihres Cousins erzählt. Bruno Renner, ein erfolgreicher Elementarteilchenphysiker am CERN, dem europäischen Kernforschungszentrum in Genf, verunglückt tödlich am 13.1.1973 bei einer Bergwanderung am Jalouvre in der Haute-Savoie. Erst 6 Monate später wird seine zerschmetterte Leiche nach aufwendiger Suche gefunden. Hier erleben wir eine Natur, wie sie Adalbert Stifter im „Bergkristall“ beschreibt: unbarmherzig, ohne Ansehen der Person, ergreift sie uns. All unsere Technik und Kultur verblasst – kein Hubschrauber, kein Batallion von Gebirgsjägern kann uns verirrte mehr retten.
„In Gesellschaft von Bäumen“ ist der Titel zum 2. Buch von „Zettels Traum“, Arno Schmidts größten Typoskript, verfasst 1963 bis 1969. Der Spaziergang der vier Protagonisten, die sich einen Tag lang in Klausur befinden, um sich auf ihre Übersetzung von Edgar Allen Poes Werken einzustimmen, beginnt zunächst auf dem „Schauerfeld“, dem ersten Buch, also auf der Heide, geht dann über in den Weg durch den Wald um schließlich in einer Behausung des Schmidt-Alter-Ego, in „Däns Cottage“ anzulangen. Speziell in diesem zweiten Teil des überaus umfangreichen und nicht nur nach seiner Masse von mehreren Kilogramm sperrigen Werk Arno Schmidts, finden wir die Welt in sehr romantischer Sicht mit dem Erhabenen in Beziehung gesetzt. Die vier Wanderer im Wald versuchen, „sich in die Falten der Zeit des 19. Jahrhunderts zu legen“, beginnen mehr und mehr die Welt mit den Augen eines Poe-Zeitgenossen zu sehen. Blaue Steinchen am Wegesrand werden zu Auswürfen von Mond-Vulkanen und schließlich wünscht sich Dän von einem Meteoriten erschlagen zu werden, um so ein angemessen Ego-Manisches Ende zu finden. Es werden Pilze gesammelt und von besonderen Interesse der ziemlich konstruiert-gesteltzten Konversation sind die Bücher, deren Einfluss den Romantischen Geist EA Poes ausmachen.
Dabei spielt nicht zuletzt ein heute fast vergessener utopischer Roman eine wichtige Rolle: „Die Unterirdische Reise des Nils Klim“ des norwegischen Schriftstellers Holberg, uns heute eher bekannt durch die Suite von Edward Grieg „Aus Holbergs Zeit“- auch für Grieg wohl schon eine längst vergangene. In dieser satirischen Geschichte entdeckt der irdische Naturforscher Klim eine unterirdische Parallel-Welt. Tatsächlich hatte im 17. Jahrhundert der Astronom Edmund Halley aus dem Vergleich der Massen der Erde und des Mondes geschlossen, die Erde müsse innen Hohl sein. Darauf hin kamen Hohlwelt-Erzählungen durchaus in Mode. Casanovas Iskameron ist ein zeitgenössisches Beispiel, aber auch das Märchen von der Regentrude von Storm, Poes Arthur Gordon Pym und natürlich „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde“ von Verne bezeugen die Suggestivkraft dieser Idee bis ins 19. Jahrhundert. Und Holbergs Erzählung war Ende des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine der beliebtesten solchen Visionen.
Nils Klim – Holbergs Held – landet nach einiger Zeit des freien Falls auf unterirdischem Planeten mitten in einer Gesellschaft von Bäumen, von Baummenschen, die im Reich Potu in einer egalitärer und liberalen Gesellschaft ohne Klassenschranken und mit gleichberechtigten Geschlechtern leben; die Hierarchie in Potu ist eine Gelehrtenrepubilk (und deshalb für Schmidt natürlich von besonderem Reiz) – und hier schließt sich der Kreis zur vorhin zitierten Ordnung der Welt von Vico, deren Ende, die Akademien bei Holberg im Anfang, dem Wald münden.
Ein holbergscher Baummensch, wie er in den Stichen der frühen Ausgaben des Niels Klim zu sehen ist, ziert denn auch das Cover zur ersten Ausgabe von Zettels Traum.
Der verirrte Jäger
Ich hab gesehn ein Hirschlein schlank
Im Waldesgrunde stehn,
Nun ist mir draußen weh und bang,
Muß ewig nach ihm gehn.Frischauf, ihr Waldgesellen mein!
Ins Horn, ins Horn frischauf!
Das lockt so hell, das lockt so fein,
Aurora tut sich auf!“Das Hirschlein führt den Jägersmann
In grüner Waldesnacht,
Talunter schwindelnd und bergan,
Zu nie gesehner Pracht.Wie rauscht schon abendlich der Wald,
Die Brust mir schaurig schwellt!
Die Freunde fern, der Wind so kalt,
So tief und weit die Welt!“Es lockt so tief, es lockt so fein
Durchs dunkelgrüne Haus,
Der Jäger irrt und irrt allein,
Findt nimmermehr heraus.J. v. Eichendorff
Jörg Blumtritt