Ewige Muster
(≠Migration der Form)
Wenn ich mir vorzustellen versuche, rein hypothetisch, was ein kompletter Laie, der mit den Sprachen der Kunst und mit dem Sprechen über Kunst (und in der Kunst) ganz und gar nicht vertraut wäre, das soll hier auch gar nicht abwertend gemeint sein, was also dieser, der übrigens auch keinesfalls mit den Gestaltungskonventionen von Einladungskarten zu aktuellen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst vertraut sei, insbesondere nicht mit jener intendierten Différance, die gerne zwischen Kartenillustration, Titel und Ausstellung selber liegt, jener gezielten Offenhaltung des Sinns, was ein solcher Rezipient, oder auch eine Rezipientin, sich nun denken möchten, nicht allgemein ungebildet, aber nur in diesem speziellen Erörterungszusammenhang gewissermaßen unter einem Schleier des Nichtwissens gefangen: dann kann ich mir genau diesen Zustand des Bewusstseins, diese Mischung aus fachfremdem Vorwissen und müßiger bis wilder Spekulation, natürlich nicht wirklich vorstellen. Ich kann nur selber spekulieren, welche von all den Assoziationen, zum Beispiel, die ich – aus besserem, oder besser: aus anderem Wissen heraus – sofort suspendiere, in einem anderen Bewusstsein weiterwirken mögen, und welche Vorstellungen von „ewigen Mustern“ sich daraus ergeben könnten. Wobei die berechtigte Frage offen bleibt: Was bringt mich zu der Annahme, ich könnte auch nur ahnen, was in den Köpfen anderer vorgeht?
Wenn ich beispielsweise unterstelle, der oder die Leserin der Einladungskarte könnte angesichts des Titels an jene zumindest scheinbar unendlichen Flecht- bzw. Knotenmuster denken, die im Frühmittelalter auf den britischen Inseln gepflegt wurden, und die als angeblich urkeltische seit einiger Zeit eine gehörige Renaissance erfahren haben, trotz ihrer provinzialrömischen Ursprünge und der orientalischen bzw. koptischen Einlüsse (aber eben nichtsdestotrotz, alleine schon weil die Kelten in Wahrheit die entnazifizierten Germanen sind, Germanen 2.0 wenn man so will).
Wenn ich solches unterstelle, tue ich den angenommenen Rezipienten jedenfalls sicher bitter Unrecht. Aber mir zumindest bietet eine derartige Assoziation einen herrlichen Aussichts- und Ausgangspunkt, vor allem angesichts der Beobachtung, dass derartige ewige keltische Muster sich ja seit geraumer Zeit höchster Beliebtheit als Körperschmuck erfreuen. Das, was in unseren Breiten lange Zeit ein Kenn-Zeichen und ein Identifikationsmittel von gesellschaftlichen Randgruppen war (Seeleute, Verbrecher, Soldaten, verschiedene Jugendkulturen), nämlich die Tatauierung, ist ja inzwischen etwas heruntergekommen, und besitzt in etwa noch die Distinktionskraft von Autofahren oder so.
Lange jedoch war die Tatauierung ein ziemlich kräftiges Distinktionsmerkmal, und zwar in beide Richtungen, d.h. sowohl identifikatorisch wie stigmatisierend. „Anständige“ Menschen taten so etwas jednfalls nicht, denn wie schon im Buch Leviticus (19, 28) steht, „Ihr sollt (…) an eurem Leibe keine Einschnitte machen, noch euch Zeichen einätzen.“ Man mag bei diesem Verbot auch hygienische Überlegungen vermuten, möglicherweise aber auch ästhetische und eben identifikatorische (immerhin steht im Vers vorher, daß der Bart nicht gestutzt werden solle). Und man mag ebenfalls über moralische oder ethische Gründe spekulieren, denn immerhin gebietet der unmittelbar nächste Vers nach dem Tatauierungsparagraphen, daß man die eigenen Töchter nicht zur Prostitution anhalten solle.
Eine ähnlich enge Verflechtung von ästhetischen und ethischen Motiven liegt auch einer prominenten, neueren Kritik dieser Form des Körperschmucks zugrunde, die 1908 in Wien erschien:
„Das Kind ist amoralisch. Der Papua ist es für uns auch. Der Papua schlachtet seine Feinde ab und verzehrt sie. Er ist kein Verbrecher. Wenn aber der moderne Mensch jemanden abschlachtet und verzehrt, so ist er ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, sein Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen achtzig Prozent der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten. Wenn ein Tätowierter in Freiheit stirbt, so ist er eben einige Jahre, bevor er einen Mord verübt hat, gestorben.
Der Drang, sein Gesicht und alles, was einem erreichbar ist, zu ornamentieren, ist der Uranfang der bildenden Kunst. Es ist das Lallen der Malerei.“
Ornament und Verbrechen waren für Adolf Loos nicht nur in einem metaphorischen Sinn verbunden, sondern ganz wörtlich. Und beide entsprangen seiner Ansicht nach dem gleichen Phänomen: der Unreife, der Regression. Lediglich das eine mal in individualpsychologischer Hinsicht, das andere mal in zivilisationsgeschichtlicher:
„Ich habe folgende Erkenntnis gefunden und der Welt geschenkt: Evolution der Kultur ist gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornamentes aus dem Gebrauchsgegenstande. Ich glaubte damit neue Freude in die Welt zu bringen, sie hat es mir nicht gedankt. Man war traurig und ließ die Köpfe hängen.“
Bekanntermaßen war man nur zum Teil traurig, andere ließen sich’s ohnehin nicht verdrießen und ornamentierten lustig weiter, und es bedurfte erst der groß angelegten unmittelbaren Komplizenschaft von Ornament und Verbrechen in Gestalt der totalen ästhetischen Mobilmachung des Dritten Reiches, um anschließend als Läuterung und Entzugstherapie die ungemusterten, kühlen Flächen und Räume des Modernismus und dann der zweiten Moderne auf breiterer Basis durchzusetzen. Und auch wenn das Pendel schon lange wieder weit zurückgeschlagen hat: ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Ornamentalen, gegenüber dem Gemusterten hat sich tief in das kollektive Unbewusste der gebildeten Stände eingeschrieben.
Auch diese Aversion ist schon beinahe wieder so etwas wie ein ewiges Muster, wie man noch an zahlreichen weiteren Beispielen zeigen könnte.
Und á propos Zeigen: unser heutiges Wort Muster leitet sich ja bekanntlich vom mittelhochdeutschen mustre her; und das wiederum stammt vom lateinischen monstrare, also zeigen… (das kannst DU ganz leicht ableiten…)
„Muster“ bezeichnet jedenfalls, um hier der Einfachheit halber mal das beliebte Online-Lexikon namens Wikipedia zu bemühen: „allgemein gleichbleibende Merkmale, die einer sich wiederholenden Sache zugrundeliegen, aber auch einen Handlungsablauf oder eine Denk-, Gestaltungs- oder Verhaltensweise, die zur gleichförmigen Wiederholung (Reproduktion) bestimmt ist.“ Dabei denkt der gebildete Hörer natürlich unwillkürlich an Walter Benjamin und seinen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, aber den habe ich ja in diesem Rahmen hier schon oft genug bemüht. Statt dessen möchte ich einen Gedanken verlinken, den die Wikipedia nicht kennt, auch wenn sie nahe genug an dieser Idee vorbeischrammt, indem sie auf den Aspekt der Vorlage, der Warenprobe, und gar der nachahmenswerten Vollkommenheit im Sinne des Wortes mustergültig verweist.
Hiermit wäre man nämlich schon ganz nahe bei Plato und dessen Vorstellung von Ideen. Bekanntermaßen unterteilte Plato die Welt in zeitliche und zeitlose Dinge. Die letzteren verhalten sich dem zufolge nach Mustern, die intelligent und immer gleich sind. Es sind ewige Muster, und diese heißen Ideen. Die anderen, zeitlichen Dinge hingegen sind nur Abbildungen von diesen, sind stofflich, aber eben auch veränderlich. Und alles Veränderliche ist ohnehin lediglich eine unvollkommene Nachahmung der entsprechenden unveränderlichen Idee.
Ewige Muster im Sinne von Ideen. Derartige Vorstellungen wirkten bekanntermaßen noch lange nach. So stellten sich etwa auch die Scholastiker noch einen urbildlichen Verstand vor, in dem die ewigen Muster der sinnlich wahrnehmbaren Dinge liegen sollten.
Und noch Herder bediente sich in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791)“ deutlich als platonisch erkennbarer Vorstellungen, wenn er den technischen und künstlerischen Fortschritt einem von Göttern und Genien bestimmten „ewigen Muster“ unterworfen sah:
„Allenthalben würde man sehen, wie Schicksal und Zufall diesem Erfinder ein neues Merkmal ins Auge, jenem eine neue Bezeichnung als Werkzeug in die Seele gebracht und meistens durch eine kleine Zusammenrückung zweier lange bekannter Gedanken eine Kunst befördert habe, die nachher auf Jahrtausende wirkte. Oft war diese erfunden und wurde vergessen; ihre Theorie lag da, und sie wurde nicht gebraucht, bis ein glücklicher anderer das liegende Gold in Umlauf brachte oder mit einem kleinen Hebel aus einem neuen Standpunkt Welten bewegte. Vielleicht ist keine Geschichte, die so augenscheinlich die Regierung eines höhern Schicksals in menschlichen Dingen zeigt, als die Geschichte dessen, worauf unser Geist am stolzesten zu sein pflegt, der Erfindung und Verbesserung der Künste. Immer war das Merkmal und die Materie seiner Bezeichnung längst dagewesen, aber jetzt wurde es bemerkt, jetzt wurde es bezeichnet. Die Genesis der Kunst, wie des Menschen, war ein Augenblick des Vergnügens, eine Vermählung zwischen Idee und Zeichen, zwischen Geist und Körper.“
Das ist nun interessant. Führt aber eigentlich schon wieder zu weit. Liefert aber dafür auch wieder eine schöne Theorie der Neuschöpfung, nämlich nicht aus dem Nichts, sondern aus dem, was bereits da ist. Man mag da an Lévi-Strauss‘ Begriff der Bricolage denken, oder mal wieder an irgendwas, das angeblich irgendwas anderem eine Antike sein soll.
Man kann aber auch hier direkt vor Ort das Ergebnis dessen betrachten, was passiert, wenn eine Künstlerin mit offenen Augen und wachem Verstand auf einen vorhandenen Raum sich einlässt, mit einer großen Sensibilität für das Vorhandene, für das scheinbar Nebensächliche, für Muster und Formen, die uns ständig umgeben und deren ästhetische Qualität erst wieder freigelegt werden muß. Monika Kapfers „all over“ Installation ist in vorbildlicher Weise ortsspezifisch und nimmt gleich eines der ungeliebtesten Muster hier auf, nämlich das des krassen Natursteinbodens der Galerie, den sie über sein Maß hinaus verlängert, um die Ecke denkt und an die Wand stellt. Daß sie auch die Stirnwand der Galerie damit verkleidet, bei der sie vor einem guten Jahr in ihrer letzten Ausstellung selbst erst das Fenster durch Verbretterung eskamotiert hat, ist eine schöne Pointe.
Das Motiv von Türen und Fenstern, die plötzlich zu solidem Mauerwerk werden, kennt man aus zahlreichen Phantasy- und Horrorfilmen, aber so weit wie den computergenerierten Realismus des Kinos treibt Monika Kapfer ihre Verwandlung dann doch nicht. Aus der Nähe gibt das Bodenmuster seine Gemachtheit aus Farbe und Klebeband sofort preis, und bei aller Authentizität der Proportionen und bei aller Akuratesse der Linienführung verweist der falsche Boden selbst aus der Entfernung offen auf die Täuschung: indem an einer Stelle die vermeintliche Plattenfuge über die Steckdose hinwegläuft…
Ergänzt wird diese zweiteilige Wandarbeit durch eine Ansammlung von bunten Kreisen, Acryl auf Papier, anzusiedeln vermutlich irgendwo zwischen Pop, Farbfeldmalerei und Shaped Canvases, aber dann eben doch nicht, allein wegen des deutlich malerischen Duktus der Bearbeitung, der dem ganzen wieder etwas sehr eigenes verleiht.
Vor allem verweist die Farbigkeit und verweisen die Formen hier auch deutlich auf die Zeichnungen, die ebenfalls zu sehen sind. Waren diese bei der letzten Ausstellung noch getrennt, im Separée ausgestellt, zeigt Monika Kapfer hier erstmals eine größere Auswahl im Kontext einer installativen Raumarbeit. Und wiewohl beide Elemente offensichtlich klar zu trennen sind, ergänzen und kommentieren sie sich aber doch auf vielschichtige Weise; nicht zuletzt durch das beiderseitige Rekurrieren auf eine Reihe von wiederkehrenden Formen und Motiven bzw. Mustern.
Das Finden oder vielleicht auch das Erfinden von Ähnlichkeiten und wiederkehrenden Mustern überlasse ich jedoch dem Publikum.
Und verweise nur noch auf ein allerletztes Muster, das noch hinter allen diesen sichtbaren Mustern liegt. Denn dies ist schon die dritte Ausstellung von Monika Kapfer in der Galerie Royal. Und die zweite in den neuen Räumen. Und wieder einmal erweist sie sich als Virtuosin darin, Raum mit wenigen Eingriffen komplett umzudefinieren, bestimmte Aspekte zu verstärken, andere gegen den Strich zu lesen, vor allem aber: sich den Raum mit spielerischer Leichtigkeit anzueignen. Wer die Arbeiten von Monika Kapfer über einen längeren Zeitraum beobachtet hat, wird nicht umhin können, auch hierin so etwas wie ein ewiges Muster zu erblicken.
Peter T. Lenhart, 2007.