Die Geschichte des Müller-Thurgau ist eine Geschichte voller biographischer und geographischer Missverständnisse – und voll des Scheiterns. Und welche Rebe könnte trefflicher passen zu einer Ausstellung, der es wesentlich um reale, idealisierte und imaginierte Biographien geht, um Täuschungen, um Missverständnisse und eben um das Scheitern, an den Umständen, an der Arbeit, aber auch an sich selbst.
Die Müller-Thurgau-Rebe ist eine Kreuzung, die in den 1880er Jahren an der Forschungsanstalt für Garten- und Weinbau in Geisenheim im Rheingau gezüchtet wurde, von Hermann Müller, der sich selbst nach seinem schweizerischen Herkunftskanton Müller-Thurgau nannte. Der promovierte Botaniker erforschte die Neuzüchtung, die er als eine Kreuzung aus Riesling und Silvaner deklarierte, auch nach seiner Rückkehr in die Schweiz weiter, und schon bald verbreitete sich die Rebe im In- und Ausland, zunehmend auch in den deutschen Weinbaugebieten – als Müller-Thurgau. In der Schweiz hingegen hieß die Rebe und heißt sie noch heute: RieslingxSilvaner – der bescheidene Botaniker wollte in seinem Heimatland kein übertriebenes Aufsehen von sich machen.
Aber egal unter welchem Namen: es war ein Siegeszug. In Deutschland lässt die neue Rebe 1975, was die Anbaufläche angeht, alle anderen hinter sich. Nachvollziehbar: die Ansprüche an die Umstände (Klima, Boden, Standort) sind gering, die Reben früh reif und reich an Ertrag. Mild an Säure und reich an Frucht. Ein Erfolgsrezept. Da Erfolg aber nicht immer Glück und Masse selten Qualität bringt ging es irgendwann auch mit dem Müller-Thurgau wieder bergab – zumindest nominell. Angeödet von lieblosen Allerweltsweinen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit wandten sich bald zumindest die anspruchsvolleren Trinker wieder vom Müller-Thurgau ab. Die anspruchsvolleren Winzer, die weiter mit der Rebe arbeiten wollten, reagierten auf dieses Plebiszit der Verbraucher weinbauernschlau mit einer onomatopoetischen Vernebelungstaktik: sie nannten sie fortan „Rivaner“, ein Neologismus aus den beiden angeblichen Ausgangsreben Rieslung und Silvaner. Jedoch: sogar dies ein weiteres Missverständnis. Beziehungsweise ein Irrtum. Denn wie neuere gendiagnostische Nachprüfungen ergaben: Riesling durchaus beteiligt, aber eben nix Silvaner. Pater semper incertus. Doch jetzt weiß man: sogenannte Vaterrebe ist eine Züchtung aus dem Umkreis des Chasselas/Gutedel – mit dem Namen Madeleine Royale.
Von Müller also in wenigen Sätzen zu Royal, gehen Sie nicht über Thurgau, sondern über Burger und Meier. Namen sind, wie man sagt und wie man sah, Schall und Rauch, Anlaß zu Missverständnissen und Komplikationen, Biographien von Menschen und Dingen sind zumindest in der Außendarstellung stets formbar, und Erfolgsgeschichten können stets genauso wieder an die Wand gefahren werden.
Soweit die Allegorie. (Bedenke jedoch: die Allegorie einer Frau ist keine Frau.)
Es geht jedenfalls um dies: Stefan Burger. Stefan Meier. Stefan Müller. Drei Schweizer Künstler, drei junge Schweizer Künstler (wobei: Stefan Müller ist eigentlich schon nicht mehr der jüngste). Diese beleuchten auf alle Fälle in ihrer Ausstellung in der Galerie Madeleine Royale (ganz Proustsch) anhand von dokumentarischen, quasi-musealen Realien sowie von tatsächlichen Arbeiten die eigenen künstlerischen Lebens- und Produktionsbedingungen, und dies stets im Spiegel moralisierender, romantisch-ideologischer wie auch „realistischer“ Künstlerporträts: Ein Durchdeklinieren „polyphrener Künstleridentitäten angesichts bricolagesquer Universaldilettantiken“ (Burger)… Leitmotivisch sind hierbei Strategien des kontrollierten (vielleicht sogar heroischen) Scheiterns und der Zerstörung, ebenso wie die Idee des Missverständnisses als produktive conditio sine qua non der Kunst.
Auf das Motiv der Zerstörung bereitet schon der Paravent als Ausgangspunkt am Eingangspunkt vor: mit dem ikonischen Bild des Clash-Frontmannes Joe Strummer (im Deutschen klingt ja schon die Vokabel Frontmann kriegerisch und zerstörerisch), gerade dabei, seine Gitarre zu zerdeppern.
Das Bild entstammt offensichtlich, mit seinen hypertrophierten Gebrauchsspuren, einem alten, gebrauchten, geradezu zerzausten Printmedium; die billige, massenhafte Reproduktion der Dokumentation einer Geste, gewaltig aufgeblasen und gleichzeitig heruntergebrochen (aufs bürgerliche Accessoire des Paravents);
ein Verweis auf emanzipatorische Erlösungsutopien, die sich an Gewaltphantasmagorien knüpfen, wahrscheinlich sogar ein Verweis auf autodestruktive Theorien von Kunst – ebenso, freilich, wie auf deren Verbreitung und Banalisierung in popularkulturellen Kontexten.
Wobei das eine vom anderen kaum zu trennen ist. Gustav Metzgers Autodestruktionstheorien, die die Zerstörung als der zerstörerischen Industriegesellschaft einzig angemessene Kunstform des 20. Jahrhunderts sahen, waren recht schnell aus dem künstlerischen Feld hinausdiffundiert. Pete Townshend, Gitarrist und Gitarrenzerdepperer bei „The Who“ war Student bei Metzger am Ealing Art College und nannte ihn als wichtige Inspiration. Doch alle zugestandene Originalität der Geste (über die künstlerische Kohärenz mag man eh streiten) nahm mit jedem weiteren Zitat sukzessive ab. Hendrix, Strummer, Cobain, gar nicht zu sprechen von den vielen hunderten oder tausenden dazwischen… Inzwischen hat man schon deutschen Retortenpopsternchen beim Gitarrenzerdeppern zusehen dürfen. (Und Marilyn Manson entsprechend mit Mikrofonen, der aber die Geste schon wieder als Geste reproduziert. Notes on Camp.)
Späterhin jedenfalls kommt Gustav Metzger noch einmal höchstpersönlich vor. Und zeigt, wie Destruktion elegant und entspannt aussieht.
Ein weiterer kunsttheoretischer Anker der Ausstellung ist Marcel Duchamp, auf den in einem großformatigen Triptychon Bezug genommen wird. „Study for Anti-Fountain“ heißen die Arbeiten, die einerseits Hommage, andererseits Fortsetzung oder Weiterentwicklung zu Duchamps bekanntester Arbeit sind. Wo Duchamp das ladenneu Vorgefundene von der Wand auf den Boden translozierte und verklärte, wird hier das offensichtlich gebrauchte vom Boden an die Wand übertragen. In gewissermaßen archäologischer Akribie wurden verschiedene historische Schichten von Toilettenbödenbelägen sorgfältig abgelöst, gereinigt/restauriert, auf einen Bildträger aufgezogenund an die Wand gestellt (gestellt, nicht gefahren). Kunsthistorischer Kommentar, ideengeschichtliches Pasquille und gleichzeitig eine Art von kleinem Musée sentimentale… Das Private ist politisch und die Missverhältnisse von einstiger Sorgfalt und heutigem Wert werden ebenfalls beiläufig zwinkernd thematisiert.
Die teils sentimentale, teils dokumentarische Widerspiegelung des eigenen Lebens- und Arbeitsumfelds wird dann noch ganz konkret an die Wand gehängt. Aber auch hier ist truth nicht nur sometimes sondern immer stranger than fiction und die Kombination von konkreten Ansichten und seltsamen Fund- und anderen Stücken ergänzt sich in konzentriert dichter und geometrischer Hängung zu einem suggestiv erzählenden Zusammenhang. Laserkopien eines aufgefundenen Notizbuches unbekannter Herkunft (und rätselhaften Inhalts), historischer, vielleicht religiöser, vielleicht parafaschistischer Kitsch (wird die Kerze von der Hand beschützt oder wird das Licht unter den Scheffel gestellt?), allegorische Wasserflüsse, Verfallsansichten, bei denen drippings und hard-edge murals mit Dieter-Rothschen Schimmelbildern getraut werden, im Geiste und vor dem objet trouvé im Vordergrund… Die Fotografien rekurrieren teilweise scheinbar auf surrealistische und dadaistische Bildwelten, teils werden Erinnerungen an Westcoast-Künstler wie Mike Kelley oder Paul McCarthy oder Regisseure wie David Lynch geweckt – und das alles im eigenheimischen Kontext!
Von diesem Mikrokosmos, mit seinen eigenen Kosmologien und Dämonologien, weiter zur Makroebene: ein Rundumblick aus dem Blickwinkel des Genius locii; eine Bricolage in analoger Fotografie, Teilansichten zum Panorama gestückelt, eine städtebauliche Bestandsaufnahme im Vorüberblicken, aus dem Augenwinkel gewissermaßen, schließlich digital aufgelöst, gefiltert, abstrahiert. Die Realität gerinnt – auch durch das extreme Format – zur Theaterkulisse, Verfall schießt ebenso ins Idyll wie das Sanierte; der Himmel erinnert, trotz und in seiner extremen Formalisierung, an Hokusai, aber nicht der heilige Fuji-Berg ist es, der das Bild in einer ebenso realen wie sentimentalen Geographie festnietet, sondern der heilige Üetliberg, der Uto Kulm mit seiner charakteristischen Silhouette und dem Fernsehturm.
Am Raumende, mit der piéce de résistance gewissermaßen, wird die Ausstellung noch ein wenig mehr festgenietet. Und zwar im biographischen, vielleicht. „Wandmosaik nach S. Müller“, Nadelfilzteppich auf Spanplatte, eine farbenfrohe Studie in Farbfeldkleberei, Hard-Edge-Bastelei, Hard-edge Conceptualism, ein großflächiges Wandmosaik, das fatalerweise am Boden gestrandet ist und nicht nur unentscheidbar zwischen Abstraktion und Nichtgegenständlichkeit, sondern überhaupt quer bzw. schief zu allen Kategorien und Ideen liegt. Aber obwohl die Arbeit durch ihren Titel eine biographische bzw. kunsthistorische oder topographische Lesart nahe liegt, kann man doch eine erstaunliche Nähe zu einigen aktuellen Münchner Positionen bemerken. Und auch wenn es keine ganz genuine Arbeit Stefan Müllers ist: im Zusammenhang mit den hier gezeigten dokumentarischen Piècen aus seinem (ehemaligen) Umfeld ergibt diese Hommage doch zumindest ein vorläufiges Bild.
Die Coda zur Ausstellung, das Nachspiel auf dem Theater, stellt das sogenannte Kammerl dar, ein heruntergedimmter White Cube, der auf zweierlei verweist: auf die immanente Nähe, die extreme Gewalttätigkeit (das offensichtliche Schlaginstrument) und extreme Kultiviertheit (die letzte und feinste Spezialisierung in der Küche) oft haben. Und dann: auf die zahlreichen Fallen und Stricke der Täuschungen und Missverständnisse, beim Betrachten von Kunst ebenso wie beim Betrachten von Leben – eigenem und fremdem. Täuschungen und Enttäuschungen, Lichter und Irrlichter, Intentionen und Prätentionen, die Doppeldeutigkeit von Plot als Erzählstruktur und Verschwörung, auf Nomen und Omen, Sein und Schein, Masken und Personae, Spiegel im Spiegel im Spiegel im Spiegel…
Zu Risiken und Nebenwirkungen konsultieren Sie Dr. Müller-Thurgau.
Peter T. Lenhart, 1. September 2006.