Vortrag und Publikation
am 17.Juni 2005
„Kant und die Gotik“
Vortrag und Publikation
Der Vortrag „Kant und die Gotik“, mit dem Berthold Reiß letztes Jahr in Berlin (Ausstellungsraum Center) für Aufsehen sorgte, liegt endlich in Buchform vor.Die Veröffentlichung im Verlag h+k, Berlin wurde angeregt von Thilo Heinzmann, Thomas Helbig und Andreas Hofer. Sie kommt zustande durch die Galerie Royal.
Am 17. Juni wird die Publikation erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.
Berthold Reiß, geb. 1962, lebt in München und hat 2004 und 2005 in der Galerie Royal ausgestellt.
Kant und die Gotik
Das Ende der großen Erzählung gehört zur Galerie Royal wie ein Stein ins Fundament, von dem keiner mehr sagen kann, wer ihn wann, genau so und warum gefügt hat. Nicht nur geht es keinen mehr etwas an, ob dieser Titel von Lyotard oder von Lenhart stammt; aus dem Dunkel seiner Autorschaft leuchtet vielmehr eine neue, noch wenig bekannte Autorität. Das Ende der großen Erzählung, gemeint ist der Bruch mit dem Mythos, den unsereiner sich zutraut, ist als Titel selbst mythisch.
Eine große Erzählung ist, wenn man versuchen will, mit Kant zu sprechen, die Einbildung einer Synthese, die einen gemeinsamen Zeit-Raum vorstellen läßt, der auf andere Art „groß“ ist, als „die“ Zeit und „der“ Raum.
In der Tat kann man sich unter „Kant und die Gotik“ eine große Erzählung vorstellen. Nicht nur soll Kaliningrad eine gotische Stadt gewesen sein. Auch die Gotik selbst hat man „transzendental“ genannt. Man kann sich also durchaus eine Synthese einbilden, die Kunst und Wissenschaft, Mittelalter und Aufklärung in einem Urteil verbindet: Kant hat gotisch gedacht.
Entsprechend dem 17.Juni zeigt die Einladung, wie sich Pflanzen erheben aus einem gotischen Baldachin. Dieses Ereignis ist für Kant unerklärlich, solange wir nicht von uns selber absehen: „Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen.“
Welchem Verstand können wir die „Absicht“ zusprechen, die Naturgesetze zu ordnen, wenn uns schon der Zweck dieser Absicht, ein lebendes Wesen, unerklärlich ist? Kant schreibt die Vorzeichnung dieses Wesens einem „architektonischen Verstand“ zu. „Kant und die Gotik“ fragt nach diesem Künstler, der wir nicht selber sind. Und „Kant und die Gotik“ fragt nach dieser Kunst, die, gemessen an uns, nicht authentisch ist. Diese doppelte Frage entspricht der doppelten Orientierung einer „Transzendental-Philosophie“: „transzendental“ heißt zum einen „die Bedingung der Möglichkeit“ und zum andern die Möglichkeit selbst.
(B.R.)