Vortrag zu Fanny Geisler, Heinz Pfahler: „Du und Ich“

Fanny Geisler, Heinz Pfahler: „Du und Ich“

Eine Analyse dieser Ausstellung könnte bei zwei eng zusammenhängenden Punkten ansetzen: bei ihrem Titel und bei der Hängung, also im Raum. Der Titel „Du und ich“ wirkt auf den ersten Blick oder auf’s erste Hören überaus eingängig und nachvollziehbar. Zwei Personalpronomina (zweite und erste Person Singular) und eine alltägliche Konjunktion. Man kann, wenn man nicht gleich bei der oberflächlichsten Interpretation stehen bleibt (und einfach die Künstler der betitelten dialogischen Doppelausstellung gemeint sehen will), die Spekulationen beginnen, wer mit diesen Personalpronomina bezeichnet ist. Das würde auch schon die Frage nach der Perspektive, nach dem/derjenigen einschließen, der oder die den Titel schreibt, spricht oder denkt. Wer ist ICH und wer (oder was?) ist DU? Diese Frage will ich aber erst einmal hinangestellt lassen und mich der unscheinbaren (fast möchte ich sagen: unschuldig wirkenden) Konjunktion zuwenden. UND: fest steht, dass das UND, so wie es dort steht, aus dem ICH und dem DU keinesfalls unbedingt ein WIR macht. Ganz streng genommen kann man festhalten, daß die Konjunktion UND im Zusammenhang dieser Ellipse nicht mehr bedeutet als ein Komma oder ein Semikolon. Es steht einfach dazwischen. Es steht in der Mitte und verleiht der Konstruktion ihre Balance und eine Form, vielleicht auch eine leichter wahrnehmbare Identität, aber es bedeutet selbst nichts, gar nichts. Es ist der paradigmatische Fall einer leeren Mitte, eines Gravitationszentrums, das aus nichts als Gravitation besteht, wie ein schwarzes Loch. Eine – wie der Bumann es so treffend ausdrückte – Worthex‘, die, bei aller eigenen semantischen Leere, alles um sich herum behext… Nur nebenbei bemerkt: steckt hier volksetymologisch unter Umständen das lateinische Vortex darinnen? Der physikalische Wirbel mit seinem ebenfalls leeren Zentrum, um das das bewegte Gas oder die bewegte Flüssigkeit kreist?
Mit dieser Anordnung von zwei Positionen, die sich um ein leeres Zentrum herum gruppieren, bzw. die sich sogar durch ihre relative Lage zu diesem selbst leeren Zentrum definieren, bildet der Titel der Ausstellung eine bemerkenswerte Analogie zu ihrer konkreten Form, wie sie sich hier sichtbar und begehbar darstellt. Die Anordnung der Arbeiten von Fanny Geisler und Heinz Pfahler im Galerieraum entspricht meines Erachtens exakt der Konstruktion des Titels. Natürlich ist die Hängung auch „gut gemacht“ in dem Sinne wie hier schon viele Hängungen und Anordnungen „gut gemacht“ und absolut gelungen waren: rhythmische Strukturierung, eine überzeugende, schwingende Linie der Bilderhöhen, ein anregendes Wechselspiel von strahlender Farbigkeit und gedeckten Tönen, usw. Nein, was hier im außergewöhnlichen Maße erstaunt ist die für eine Ausstellung mit so genannter Flachware frappierende Raumwirkung und Raumbezogenheit. Und die Gleichzeitigkeit von beinahe zwingender Linearität und offener Rund- oder Zentralbauanmutung. Mit Linearität meine ich vor allem den Korridor aus Zeichnungen, der auf den Schutzmanteljoseph zuläuft und schon von der Türe aus gesehen einen erheblichen optischen Sog entwickelt; meine ich die beinahe „lesbare“ Narrativität der Arbeiten im seriellen Zusammenhang ihrer Hängung. Dass sich bei mir, trotz aller Eckigkeiten des Ausstellungsraums, Assoziationen an Zentralbauten bzw. Rotunden, Kreisformen auf jeden Fall einstellen, führe ich auf den Eindruck von Offenheit, Gleichberechtigung, Simultaneität und Totalität zurück und auf einen zweiten, unter dem vorher genannten liegenden Rhythmus, der sich nicht so sehr im Sinne einer strukturierten Abfolge von Ereignissen erschließt, sondern im Sinne einer pulsierenden Einheitlichkeit und Gesamtheit. Dieser Eindruck eines auch im ganz wörtlichen Sinne Runden verdankt sich meiner Meinung nach der Hierarchiefreiheit und gegenseitigen Achtung und Toleranz, die die Arbeiten, die alle Arbeiten in diesem räumlichen Zusammenhang entwickeln. Jedes Bild scheint gleichberechtigt und scheint gleichberechtigt mit allen anderen zu kommunizieren. Und alle scheinen gleichweit entfernt – gewissermaßen im Sinne eines Radius – von einem unsichtbaren, vielleicht leeren Zentrum, das der Betrachter sein könnte.
Der ideale Standpunkt, um diese Erfahrung zu machen, scheint mir direkt nach dem Betreten der Galerie, innen vor der Eingangstüre zu sein. Det som Engang var. Dort stehend hat man meines Erachtens den perfekten Blick auf die Ausstellung, um diese umfassende Gesamtheit wahrzunehmen. Es ist ein in anderem Sinne verstandener zentralperspektivischer Blick, ein panoptischer, wenn man so will. Und genau dort stehend („Un point précis sous le tropique / Du Capricorne ou du Cancer / Depuis j’ai oublié lequel / Sous le soleil exactement / Pas à côté, pas n’importe où / Sous le soleil, sous le soleil / Exactement juste en dessous“) nimmt man alles wahr, die Bilder in ihrer Gesamtheit, den Raum in seiner Gesamtheit und vor allem die mannigfaltigen, sich überkreuzenden und sich schneidenden und überlagernden Beziehungen zwischen den einzelnen Arbeiten und das dichte Beziehungsgeflecht, das sie bilden. Und es ist dann doch wie bei Velazquez berühmtem Bild „Las Meninas“, „Die Hoffräulein“, daß man eben dennoch nicht alles sieht. Foucault hat das in der Einleitung zu seinem Buch „Die Ordnung der Dinge“ wunderbar auseinandergenommen, die verschiedenen Verweisebenen und die Blickachsen, die bedeutungstragenden Gegenstände und die Blicke, die aber schließlich alle auf etwas verweisen, was im Bild selbst genau nicht enthalten ist: nämlich den (gedachten) Punkt außerhalb des Bildes, von dem aus der Betrachter das Bild betrachtet bzw. von dem aus sehend Velazquez das Bild gemalt haben könnte. Dieser blinde Fleck, dieses nicht sichtbare Außerhalb, das aber das 2
Innerhalb strukturiert, ist das geheime Zentrum des Bildes und vielleicht sogar sein Thema (die Emanzipation des Malersubjektes und der Malerei). In genau dieser Weise erschließt sich für mich die Ausstellung von diesem einen Punkt aus; und offenbart sich der mitkalkulierte Betrachter selbst als das für ihn selbst unsichtbare aber eigentlich wesentliche (und nun vielleicht doch nicht mehr leere) Zentrum. In diesem Zentrum laufen die Beziehungen der Arbeiten untereinander zusammen, und dieses Zentrum entspricht vielleicht der Konjunktion im Titel der Ausstellung. In diesem Sinne erzeugt das UND zwischen ICH und DU vielleicht immer noch kein WIR, aber paradoxerweise sind WIR, die Betrachter, dann doch in gewisser Weise dieses UND…
Ich wäre sehr versucht, diesen Gedanken über das leere Zentrum der Konjunktion und die versteckte aber konstitutive Präsenz des Betrachters als blinden Fleck auch noch auf die Photographie auszudehnen, die als Vorlage für die Einladungskarte gedient hat: eine eingehende semiologische Lektüre schiene mir hier sehr vielversprechend; aber andererseits wäre das nach anderer Menschen Geschmack vielleicht auch wieder etwas viel des Guten. Und insofern erlaube ich mir einen sehr rapiden Übergang von der formal-strukturalen Ebene auf diejenige, die man leichtfertig die inhaltliche nennen könnte. (Ganz im Sinne des großen Marshall McLuhan: „Ihnen gefallen diese Gedanken nicht? Ich habe noch andere!“)
Fangen wir also noch einmal ganz von vorne an.
Die Ausstellung „Du und ich“ lebt von Gegensätzen. Geht es schon auf der einfachsten formalen Ebene um Zeichnung vs. Malerei, Fläche vs. Linie und Farbe vs. Graustufen, legt der Titel eine Lesart nahe, in der es auch inhaltlich um das Verhältnis zwischen dem ICH und einem Gegenüber geht: und in „Gegenüber“ steckt eben immer auch ein „gegen“. „Du und ich“ meint also nicht nur das Verhältnis zwischen den ausstellenden Künstlern (die in diesem Fall auch noch ein Künstlerpaar sind, was, zumindest theoretisch, dem schlimmsten Psychologismus und der Biographik Tür und Tor öffnen könnte). Sondern es meint auch ganz allgemein das Verhältnis des Künstlers, des Menschen allgemein zur Welt und zu den Anderen; auf dieser Ebene enthält die Konjunktion „und“ ein Möglichkeitsfeld, das von Symbiose und Harmonie allerdings bis hin zu Unverständnis, Abneigung und Feindschaft reicht.
Heinz Pfahlers Zeichnungen tendieren eher zu den letztgenannten Möglichkeiten: ein Konvolut von 19 neuen Blättern (Bleistift auf Bütten), die eine düstere dystopische Welt eröffnen, kriegerisch und gewalttätig, angetrieben von Gier und Herzlosigkeit, eine alptraumhafte Reise in das Herz der Finsternis unserer westlichen Zivilisation. Unübersehbar (ja, beinahe spürbar) ist, wie unmittelbar und aus welcher ehrlichen Empörung über schlechte Zustände heraus Pfahler sich hier etwas von der Seele gezeichnet hat. Dabei kontrastiert die Klarheit und sichere Präzision, mit der die Motive aufs Papier gesetzt sind ebenso wirkungsvoll mit der Thematik von Apokalypse, Chaos und Entropie wie die bewusst strenge und konservative Präsentation in den edlen Rahmen und Passepartouts. Es ist eine Art säkularer Höllensturz, der aber auf den Wimmelbild-Charakter eines Hieronymus Bosch und die zeichnerische Drastik eines Goya verzichtet, zugunsten einer fast schon analytischen „Ligne Claire“ (um mal einen Begriff aus der Comic-Geschichte zu zweckentfremden). Man könnte meinen, der Betrachter sehe hier das, was Paul Klees Angelus Novus in der Lesart Walter Benjamins sieht, während ihn der Sturm des Fortschritts immer weiter in Richtung Zukunft bläst: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst.“ Dass der Serie von Alpträumen und Katastrophen auch zwei versöhnliche und hoffnungsvolle Blätter untergemischt sind, verdeutlicht andererseits, dass eben beides zum Leben gehört. Wie es bei Brecht heißt: „Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich / Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst. / Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich / Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.“ Das alles ist – leider – so sehr Teil der Condition humaine, wie der Rückfall in den Mythos und die Unvernunft dialektisch Teil der Aufklärung selbst war und ist…
Fanny Geislers Arbeiten verdanken sich einem ähnlich unmittelbaren Impetus, bestimmte Gefühlslagen oder besser: energetische Zustände aufs Bild zu bringen, sind aber im Allgemeinen weit mehr von einem positiven Zugang zur Welt getragen und voller Hoffnung. Geisler will das, was sie unmittelbar umgibt in Kunst überführen und gleichzeitig die Wirklichkeit (oder zumindest ihr Verhältnis zur Wirklichkeit) auf diese Weise positiv gestalten; es geht ihr stets auch um das uralte philosophische Projekt des guten Lebens und wie dieses zu finden sei. Im Gegensatz zu früheren Arbeiten experimentiert sie gegenwärtig vermehrt mit kleineren Formaten auf Leinwand und Keilrahmen und (im Gegensatz zu den früheren, tendenziell unbegrenzten und rahmenlosen, frei hängenden Bildtüchern) mit dem hergebrachten Medium des Tafelbildes. Freie, organisch wirkende Formen auf malerisch gründlich durchgearbeitetem Grund, ergänzt um kalligraphische Details, erzählen im Lichte der jeweiligen Titel von der tätigen Suche nach dem „guten Leben“. Vom eigenen, aber vielleicht auch vom möglichen Leben der Anderen.
Auch wenn Geisler und Pfahler in dieser Ausstellung an unterschiedlichen Enden des Spektrums arbeiten, geht es doch beiden wesentlich um eine Idee der Unmittelbarkeit – und sicher auch um eines der zentralen, unabgeschlossenen Projekte der künstlerischen Moderne: der Überführung von Kunst in Leben und umgekehrt.
Peter T. Lenhart, 2009