Vortrag zu „Nacht und Wald“

Nacht und Wald

Wenn man heute die inzwischen vierjährige Geschichte der Galerie Royal betrachtet, wird man feststellen, daß sich durch etliche der Ausstellungen und von Anfang an ein starkes romantisches Moment hindurchzog – ohne daß dies von Seiten der Galerie je bewußt als Programm intendiert gewesen wäre.
Um dieser Beobachtung Rechnung zu tragen und zumindest ex post eine Reflexion dieses impliziten „Leitmotivs“ zu versuchen, wurde die Ausstellung „Nacht und Wald“ konzipiert.
Die titelgebenden Begriffe stehen hier als Leitfossilien, als zentrale Figuren bzw. Chiffren der romantischen Literatur und Kunst, als Projektionsflächen für Gefühl, für Innerlichkeit und Selbsterfahrung, für Transzendenz, Entgrenzung und Sehnsucht; aber auch für die Konfrontation mit den Nacht- und Schattenseiten des Lebens und der Psyche, mit Träumen und Alpträumen.
Anhand verschiedener zeitgenössischer künstlerischer Positionen, die sich mit diesen Motiven auseinandersetzen, soll nicht nur die Bedeutung des Romantischen im Diskurs der Galerie und ihrer Künstler ausgelotet, sondern das Romantische überhaupt auf seine Anschlußfähigkeit an heutige Lebens-, Wirtschafts- und Denkformen befragt werden.

So formuliert es zumindest die Pressemitteilung zur Ausstellung.
(So weit, so gut, so schwammig wie hoch aufgehängt.)

Aber in der Tat: das Romantische wird befragt – die Antworten muß der Betrachter sich jedoch vor allem selbst zusammenreimen. Man ist ja in letzter Zeit mit positivistisch hypertrophierten Verwendungen romantischer Ideologeme nicht eben knapp versorgt worden. Sei es die Konjunktur der romantischen Vorstellung einer essentialisierbaren und über das Verwaltungstechnische hinausgehenden Nation oder gar eines vor allem aus der mythisch verklärten Vergangenheit herausdestillierbaren Nationalcharakters… Bis hin zur Phantasmagorie einer einheitlichen Leitkultur, bei der die Kenntnis von Caspar David Friedrichs Kreidefelsen auf Rügen darüber zu entscheiden vermag, wer nun Deutscher ist und wer ganz sicher nicht. Aber der heruntergekommene politische und mediale Diskurs unserer Zeit, dieser grauenhaften Nacht der Gegenwart, operiert dabei außerordentlich selektiv. Man schwelgt im dumpfen Nationalsentiment, man ersetzt bereitwillig Logos durch Mythos, man pflegt und verherrlicht das national und regional als Eigenes Gedachte, man hält schlecht idealistisch die Ideen für das Wahre und die Realität für eine lästige Störung derselben; aber von der romantischen Ironie, von der Selbstinfragestellung, von Entgrenzung, Regel- und Disziplinlosigkeit will man dann doch nichts wissen. Und Eichendorffs Taugenichts würde heute von den zuständigen Behörden so lange gefördert und gefordert, bis ihm Hören und Sehen verginge. Aber immerhin: kann man inzwischen sogar romantische Badezusätze kaufen und im Urlaub im Romantik-Hotel absteigen. Wenn das mal nichts ist…

Aber das soll heute unser Thema gar nicht sein. Es geht mir vielmehr wirklich um die historische Epoche der Romantik (und vielleicht ihr Erbe)… Diese ist eher metonymisch mitbezeichnet im Titel Nacht und Wald, eben jener Tageszeit, in der die Seele, wie es bei Eichendorf heißt, ihre Flügel ausspreitet und nach Hause fliegt; und der Wald als Ort der Begegnung des Menschen, des Künstlers mit dem Äußeren, dem Fremden, dem – im Freud’schen Sinne – Un-heimlichen. Nacht und Wald waren den Romantikern Ort und Zeit in welchen die große Wunde, der große Bruch, der tiefe Riß durch die Welt zumindest temporär geheilt werden konnte, wo Idee und Realität, Anspruch und Wirklichkeit, Mensch und Natur, Ratio und Gefühl vorübergehend sich versöhnen ließen. Nun darf man aber nicht übersehen, dass diese beiden Topoi, Nacht und Wald, ebenso wie zahlreiche andere, von den ursprünglichen Romantikern keinesfalls so essentialisierend gedacht wurden wie von ihren schlechten Epigonen. Da war schon die bereits erwähnte romantische Ironie vor, das ständige Bewusstsein und Bewusstmachen des eben nur künstlich Gemachten, willkürlich Gesetzten, das die meisten Werke mehr oder weniger ausdrücklich durchzieht. Keinesfalls wären die klügeren unter den Romantikern auf die Idee verfallen, Wald, Nacht, das Dunkle, unbewusste, grüblerische, erdenschwere wirklich als Urgrund eines wie auch immer definierten Nationalcharakters zu apostrophieren, wie es ihre schlechten Epigonen so überaus wörtlich genommen haben. Wenn dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts mit wissenschaftlichen Weihen das historisch eigentlich unbedeutende Scharmützel zwischen ein paar Wilden und einer schlecht beratenen römischen Legion im Teutoburger Wald (!) als Ursprung der deutschen Nation und der deutschen Emanzipation genommen wurde, musste sich schon Karl Marx fragen, worin sich eigentlich die in den Wald projizierte Freiheitsgeschichte des deutschen Volkes von jener des Ebers unterscheide… [Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; MEW I, 380]

Nein, Nacht und Wald – als Leitchiffren der kognitiven Kartierung des Romantischen gesehen – waren streng genommen auch nur (wenngleich vielleicht besonders nahe liegende) Anknüpfungs- bzw. Kristallisationspunkte für eine zentrale semantische Operation der romantischen Poetik. Diese Operation hat Friedrich von Hardenberg, bekannter unter seinem Künstlernamen Novalis, bezeichnet als das „Geheimlichen“. Er verstand darunter eine kalkulierte und absichtsvolle Obfuskation oder Mystifizierung, die Erhebung „in Geheimniß Stand“, bei der vertrautes Wissen wieder in den Status des Unvertrauten transformiert und als das eigentlich Nicht-darstellbare ausgegeben wird. Ein Verfahren, das viel gemein hat mit demjenigen, das Brecht Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts als „V-Effekt“ bzw. „Verfremdung“ bezeichnete, und das auch in der bildenden Kunst der Moderne eine zentrale Rolle spielte. Solches verstanden die frühen Romantiker unter „romantisiren“. Oder wie Novalis formulierte: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch die Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck“ [Fragmentensammlung. VI, 545, 105]. Wir sehen: auch in der Romantik geht es letztlich um gewollte und kalkulierte Verknüpfungen und Vertauschungen von scheinbar Gegensätzlichem, von fremdem und Eigenem, profanem und sakralem, von High und Low, von Explizitem und Implizitem… Aber eben immer im vollen Bewusstsein dieser schöpferischen Manipulation. Daß aber auf genau diese Gemachtheit, diese Setzung in den Werken selbst regelmäßig wieder verwiesen wird: das ist genau die so genannte romantische Ironie. Das Handeln ganz im Bewußtsein dieser Kunst als Kunst. Um es noch einmal mit Novalis zu sagen: „Die Kunst, auf eine angenehme Weise zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poetik“ [Fragmentensammlung XII, 685, 668; Hervorhebung von mir].

In sofern lassen sich die hier versammelten Positionen, selbst wenn sie sich vordergründig natürlich oft durchaus tatsächlich mit Nacht und Wald befassen, doch auch in einem tieferen Sinne als romantisch betrachten. Sie kalkulieren die Sichtbarkeit des romantischen Verfahrens immer mit ein, und auch die Brechung der Illusion. Sie spielen mit Erwartungen und deren Nichterfüllung, sie setzen Wunsch und Wirklichkeit offen nebeneinander – und halten damit, im offensichtlich uneingelösten und uneinlösbaren Versprechen der Heilung jenes Risses in der Welt, genau diesen Riss offen. Das ist eine Form der Aufklärung im allerbesten Sinne, die jener auf die rein instrumentelle Vernunft heruntergekommenen Aufklärung, wie sie uns derzeit regiert, einiges voraus hat. Denn eine Vernunft, die ihr anderes mitdenkt, kann gar nicht so in ihr Gegenteil (den Mythos) umschlagen wie jene Vernunft, die sich über alles andere derart erhaben fühlt wie die derzeit herrschende.
Momente dieser emanzipatorischen romantischen Ironie finden sich in allen hier gezeigten Arbeiten, und um die unterschiedlichen Gestaltabschattungen dieser Ironie abzustecken darf ich an den Versuch Joachim Heinrich Campes erinnern, die deutsche Sprache von Fremdworten zu reinigen (und das just 1801, also genau zur Zeit der auslaufenden Frühromantik). Sieht man Campes Bemühungen heute, wo Sprachreinigungsgedanken wieder Hochkonjunktur haben, wo Besserwissereien über Dativ, Genitiv und Tod die Bestsellerlisten anführen und wo in einem populären Massenmedium wie der Wikipedia wieder deutsche Ersetzungen für angeblich überflüssige Fremdwörter kompiliert werden: da beschleicht einen neben einer gewissen nostalgischen Amüsiertheit vor allem ein gewaltiges Unbehagen. („Die Fremdwörter sind die Juden der Sprache“, wie schon der Professor Adorno gewußt hat.)
Campe jedenfalls trachtete den unschönen Latinizismus „Ironie“ zu ersetzen durch folgende Begriffe: „Scheinunwissenheit, Spottlob, Hechelscherz, Schalksernst“. Nichts davon hat sich bekanntermaßen durchgesetzt, aber als eine Zusammenfassung, was für unterschiedliche Bedeutungen der Begriff Ironie mittragen kann, darf Campes Vorschlag wenigstens ein gewisser heuristischer Wert unterstellt werden. Denn all das findet sich hier…

Ich lege Ihnen diesen Gedanken allerdings nur nahe. Suchen müssen sie selber. Ich kann und will jetzt nicht auf alle hier ausgestellten Arbeiten eingehen, aber bei einigen ist es ja unübersehbar. Die Brechung des Blickes, die Brechung des Kitsches, den man als romantisch anzusehen sich angewöhnt hat (und Kitsch bedeutet ja nichts anderes als das Angerührtsein vom eigenen Angerührtsein). Nacht und erst recht Wald sind eben heute nicht mehr das, was sie zum Zeitpunkt ihrer kulturellen und ideologischen Aufladung einmal waren. In meiner Generation hat man die Vokabel Wald ja ohnehin fast ausschließlich mit dem Suffix „-sterben“ inkorporiert. Stefan Conradys lakonische Landschaftsansichten sind ja sehr offensichtlich unter den Auspizien industrieller Naturmodifikation zu sehen, das Waldstück ist bei ihm nur noch Zitat eines Zitats… In die gleiche Richtung lässt sich die dürre Monokultur auf Cora Piantonis blauem Foto lesen: der Wald als Zitat seiner selbst, als eigentliches Bildzentrum ein Hochstand: die Dialektik von Natur und Kultur ist unauflöslich, das eine ohne das andere wirklich nicht mehr zu denken. Beatrice Minda hingegen denkt die Nacht elektrisch. Was ehrlich ist. So wie die Fotoarbeit von Angela Fechter, die sich vor der Folie des Romantischen lesen ließe als eine Auseinandersetzung mit Märchen, Doppelgängern, Nachtalben, Geistererscheinungen… Aber erfrischenderweise wird die Aura, wird das Geheimnis gleich wieder gebrochen, wenn der unscharfen, phantomhaften Halbabsenz des großen Fotos gleich wieder die Präsenz der separat beigegebenen Nahaufnahme kontrastiert wird. Bei Barbara Spaett wiederum kommt die Natur zwar ganz wörtlich vor: echte Blätter. Aber dann doch wieder aufgehoben in einem durchaus kulturalen Setting. Bei aller Hermetik und Tiefe, die die Arbeit hat, kann man doch auch hier die Dialektik von Natur und Kultur aufgetischt sehen, wie sie auch in der Nachtchiffre des dunklen Sterns liegt, der textil verhüllten Glühbirne, lässig an Louise Bourgeois gemahnend, aber unendlich stilsicher, mit einfachsten Mitteln… Daneben Andrea Hanaks finsteres Tetraptychon, mit Anklängen an romantische Geister- und Doppelgängermotive, die sich aber eben auch wieder brechen durch die eingearbeiteten Fundstücke und Fotografien… Und schließlich: die Bilder von Anne Rössner, die zwar Naturversatzstücke und mythische Orte herbeizitieren, aber das eben in einer Ästhetik, die sich ihrer Mittel und ihres Zitatcharakters ganz und gar bewusst ist und die eine künstlerische, eine malerische subjektive Handschrift trägt, die in der Romantik zwar angedacht, aber eben noch keinesfalls durchdacht, keinesfalls vollendet war.

Peter T. Lenhart